P. Nikolaus von Lutterotti, O.S.B. (1892-1955)
Benediktiner in Prag und Grüssau, Wanderer zwischen den politischen Mächten
26. September 2010 bis 20. Dezember 2010
P. Nikolaus von Lutterotti wurde als Marco von Lutterotti am 22. Juli 1892 in Kaltern geboren. Lebensweg und Lebenswerk sind für einen Südtiroler ungewöhnlich, verschlug es ihn doch von der äußersten südlichen Grenze des deutschen Sprachraums in den südöstlichsten Teil des damaligen Deutschen Reiches, nach Schlesien.
Der Name von Lutterotti ist in Kaltern und Umgebung kein unbekannter. Das Rote Haus in der Goldgasse gehört bis heute zu den bedeutenden historischen Baudenkmälern am Ort, wo die Familie seit Generationen lebt und arbeitet. Sie stellte dem Habsburger Reich im Laufe der Jahrhunderte eine Reihe hoher, verdienter Verwaltungsbeamter. Im Jahre 1737 hatte ihr Kaiser Karl VI. den erblichen Reichsadel verliehen.
Nach vier Semestern Theologiestudium am Canisianum Innsbruck trat Marco 1912 in die Benediktinerabtei Emaus in Prag ein, wo er den Ordensnamen Nikolaus erhielt. Als junger Kleriker machte er im Sanitätsdienst der österreichischen Armee den Ersten Weltkrieg mit. Nach dem Umsturz von 1918 und dem Auseinanderbrechen der k.u.k. Monarchie, verließ der Konvent Prag und wagte einen Neubeginn im verwaisten ehemaligen Zisterzienserkloster Grüssau/Niederschlesien. Hier wurde P. Nikolaus am 10. Oktober 1920 zum Priester geweiht, hier machte er sich einen Namen als Kunsthistoriker und Klosterarchivar.
In fachmännischer Arbeit wertete er das historische Erbe der Zisterzienser aus und leistete einen überaus wertvollen Beitrag für die Erforschung und Erhellung der Abteigeschichte und des alten Stiftslandes. Auch heute- im polnisch gewordenen Grüssau (poln. Krzeszów) – besitzen seine grundlegenden Publikationen nach wie vor Geltung, von deutschen wie polnischen Fachleuten gleichermaßen anerkannt. Seine Forschungen dehnten sich auch bis nach Kaltern aus. Er erarbeitete über mehrere Jahrzehnte ein genealogisches Werk über die weitverzweigte Familiengeschichte, ein Werk von hohem Rang für die altösterreichische und Tiroler Historie.
P. Nikolaus war neben seinen wissenschaftlichen und literarischen Ambitionen ein beliebter Seelsorger, ein guter Prediger, und einfühlsamer Beichtvater, mit Humor begabt, dem vor allem die Herzen der Kinder zuflogen.
Die Katastrophe von 1945, Kriegsende, Zusammenbruch, Flucht und Vertreibung trafen mit voller Wucht besonders die deutschen Ostgebiete. Als der Benediktinerkonvent 1946 aus Grüssau vertrieben wurde. durfte P. Nikolaus als Südtiroler mit italienischem Pass bleiben.
In aufopferungsvoller Weise vollzog sich hier seine letzte, entscheidende Lebensleistung. Er erhielt die Seelsorgsdelegation für einen Teil der von Polen zurückgehaltenen deutschen katholischen Restbevölkerung in 16 Gemeinden, hauptsächlich Textilfacharbeiter und Bergleute des Waldenburger Berglandes. Unter schwierigsten Bedingungen übte er seinen Dienst aus. Er widmete sich unermüdlich den verlassenen und verzweifelten Menschen, die des Trostes und der Hilfe bedurften – meist zu Fuß, bei Wind und Wetter, oft mit einer wöchentlichen Marschleistung von bis zu 60 km. Dabei geriet er ungewollt in die Wirren der deutsch-polnischen Nachkriegsgeschichte.
Besonders schwer machte es ihm der polnische Administrator Ks. Kazimierz Lagosz in Breslau, der mit Hilfe des kommunistischen Staates als Ordinarius der Diözese eingesetzt war. P. Nikolaus erlitt unaufhörlichen Druck, der den Ruin seiner Kräfte beschleunigte und schließlich seinen frühen Tod bewirkte. Nach seiner erzwungenen Ausreise im November 1954 durfte er seine Heimat Kaltern und seine Mitbrüder in Wimpfen am Neckar, dem neuen Domizil der Grüssauer Benediktiner, noch einmal wiedersehen. Er verstarb jedoch schon wenige Monate darauf am 28. Oktober 1955 in Stuttgart. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Cornelienfriedhof in Wimpfen.
Seine Zeitgenossen vermitteln das Bild eines Menschen, der um die Höhen und Tiefen des Lebens wusste und niemals seine Grundposition und sein Ziel aus dem Auge verlor. Person und Lebenswerk stehen für ein herausragendes Beispiel an Glaubwürdigkeit, gelebt aus einem tiefen Glauben und einer nie erlahmenden Hoffnung.
Inge Steinsträßer