Am 19. Januar 1945 gab der niederschlesische Gauleiter Karl Hanke den Befehl, die Zivilbevölkerung aus Breslau zu evakuieren. Wer nicht zur Verteidigung der Stadt benötigt wurde oder als unentbehrlich am Arbeitsplatz galt, musste die Stadt verlassen. Es waren vor allem Frauen, alte Menschen und Kinder, die sich im Winter bei eisiger Kälte auf einen Weg ins Ungewisse begaben. Unter ihnen war auch Anni Keller, die mit ihrem 16 Monate alten Sohn Wolfgang aus Breslau in Richtung Westen floh.
Erst Anfang Oktober 1944 war sie, wie die in Breslau ausgestellte Aufenthaltsbescheinigung zeigt, aus dem rheinischen Düren in die Stadt gekommen. Im Nachhinein betrachtet erscheint es absurd, dass sie zu diesem Zeitpunkt nach Breslau umgezogen ist, das sie nur ein Vierteljahr später wieder verlassen musste. Doch konnte seinerzeit kaum einer in der Zivilbevölkerung ahnen, was wenige Monate später geschehen würde. Schlesien war lange von den Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges verschont geblieben und galt als Reichsluftschutzkeller. Die Ostfront verlief viele hundert Kilometer ostwärts und die Luftangriffe der Westalliierten drangen nicht bis Schlesien vor. Bis Herbst 1944 hatte es nur vereinzelte Luftangriffe auf das oberschlesische Industrierevier gegeben. Deshalb schickte man Kinder und kinderreiche Familien aus den stark bombardierten Städten und Regionen im Westen, die unter den Luftangriffen litten, nach Schlesien. Hier gab es ruhige Nächte und die Versorgung mit Lebensmitteln war gesichert.
Während in Breslau noch wenige Monate vor Kriegsende fast alles seinen gewohnten Gang ging, war Düren schon 1940 erstmals und seit Sommer 1944 immer massiver bombardiert worden. Allein im September gab es insgesamt acht Luftangriffe auf die Stadt. Dass Anni Keller das Bedürfnis hatte, sich und ihren kleinen Sohn in Sicherheit zu bringen, war nur allzu verständlich. Und die nachfolgenden Ereignisse gaben ihr recht, denn am 16. November wurde die Stadt Düren bei einem finalen Bombenangriff zu weit über 90% zerstört, mehr als 3000 Tote waren zu beklagen. Da lebte Anni Keller schon seit über einem Monat in Breslau und ihr zunächst begrenzter Aufenthaltsstatus war in eine Daueraufenthaltsgenehmigung umgewandelt worden. Doch wie kam sie ausgerechnet auf die Idee nach Breslau zu ziehen?
Am 31. Oktober 1941 hatte Anni Reins, Hausangestellte in Lendersdorf bei Düren, Kurt Keller, einen gebürtigen Breslauer in Düren geheiratet. Wie die beiden sich kennengelernt haben, ist nicht überliefert. Zu vermuten ist, dass Kurt als Ein- und Verkäufer einer Radio- und Elektrogroßhandlung sie auf einer Dienstreise kennengelernt hatte. Im Juni 1939 wurde er zur Wehrmacht einberufen und kam zum Pionier-Bataillon 48. Vielleicht hatte er auch erst in dieser Zeit seine spätere Frau getroffen. Jedenfalls nutzte er wohl einen Fronturlaub, um „seine Anni“ zu heiraten. Zwei Jahre später wurde der gemeinsame Sohn Wolfgang geboren. Anni Keller blieb mit ihm, da ihr Mann im Krieg war, zunächst in ihrer Heimatstadt. Vermutlich fasste sie erst, als die Bombenangriffe immer häufiger wurden, den Entschluss in das damals noch ruhige Breslau zu gehen. Da ihr Mann dort in der Scheitniger Straße eine Wohnung hatte, hatte sie eine Anlaufstelle und bekam eine Aufenthaltsgenehmigung. Die Kellerwohnung mag für die kleine Familie zu eng gewesen sein, jedenfalls wurde Kurt Keller vom Wohnungs- und Siedlungsamt im Dezember 1944 eine Wohnung in der Friedrichstraße 11 zugewiesen, in der die Familie dann bis zur Flucht lebte.
Nach Kriegsende ist Kurt Keller mit seiner Familie zurück in der Heimatstadt seiner Frau gezogen. Die Adresse auf den in der Nachkriegszeit ausgestellten Papieren bzw. Briefen ändern sich mehrfach, was auf die angespannte Wohnsituation in der fast völlig zerstörten Stadt Düren hindeutet.