Sommerferien und Urlaubszeit sind erstmal vorbei und so geht es wieder tagein tagaus in der Frühe in Richtung Schule, Firma oder Büro: mancher hat Glück und kann zu Fuß gehen, andere radeln und viele müssen Bus oder Bahn nehmen. So wie es vor 100 Jahren auch der kleine Helmut gemacht hat. Und das hieß pünktlich loslaufen, um die Bahn nicht zu verpassen, hoffen das sie pünktlich ist – und Fahrkarte nicht vergessen. „Bei jeder Fahrt [ist die Karte] dem Schaffner und d. Aufsichtsbeamten unaufgefordert offen vorzuzeigen und auf Verlangen wiederholt z. Einsichtnahme auszuhändigen“, ist dazu auf dem Umschlag der Fahrkarte vermerkt. Ob Helmut auf dem Weg zur Volksschule 67 in der Steinstraße immer die Fahrkarte dabeihatte, ist nicht überliefert. Eine Fahrkarte vom Mitschüler borgen ging im Notfall jedenfalls nicht, denn die Karte war „unübertragbar“ und nur gültig „für die Person, für die sie gekauft war“. Deshalb auch war sie mit einem Passbildchen versehen, auf dem Helmut im feschen Matrosenanzug zu sehen ist – typisch für die Zeit.
Als Helmut allwöchentlich seine Wertmarken erworben hat, feierte die Breslauer Straßenbahn schon ihr 45jähriges Bestehen. Denn bereits im Jahr 1876, wurde der Breslauer Straßen-Eisenbahn-Gesellschaft (BSEG) die Erlaubnis zum Betreiben einer Pferdeeisenbahn in der Stadt erteilt. Die Inbetriebnahme der ersten Linie von der Klosterstraße über den Zoologischen Garten nach Scheitnig erfolgte dann im Juli des Folgejahres. Trotz allerlei beklagenswerter Mängel: die schlechten Arbeitsbedingungen der Kutscher, die zu langsame Fahrt und zu häufig verpasste Anschlüsse wurden die letzten Pferde erst 1906 „in Rente“ geschickt. Elektrische Konkurrenz hatten diese aber bereits 1893 bekommen. Ein Jahr zuvor hatte nämlich die Elektrischen Straßenbahn in Breslau AG (ESB) eine Konzession erhalten und direkt den elektrischen Betrieb eingeführt. Die BSEG hingegen elektrifizierte ihre Linien erst ab 1901.
Das rasche Wachstum der Bevölkerung und die sich stark ausdehnende Bebauung zogen ein gesteigertes Bedürfnis nach einem weiteren Ausbau des Straßenbahnnetzes nach sich. So beschloss die Stadtverwaltung den Bau und Betrieb neuer Straßenbahnlinien selbst in die Hand zu nehmen. Im Jahr 1902 nahm schließlich die Städtische Straßenbahn Breslau (SSB) als drittes Unternehmen den Betrieb auf. Es befand sich im Eigentum der Stadt. Die ersten Linien führten von Pöpelwitz zum Ohlauer Tor bzw. von Pöpelwitz zum Hauptbahnhof. Einige Zeit gab es damit drei Straßenbahnbetreiber in Breslau, was natürlich nicht reibungslos verlief. Deshalb erwarb die Stadt 1911 zunächst für zehn Millionen Mark die BSEG. Mit Auslaufen der für 30 Jahre erteilten Konzession konnte die Stadt schließlich im Jahr 1923 auch die ESB übernehmen und deren Linien in das SSB-Netz integrieren. In der Zeit als der kleine Helmut tagtäglich die Straßenbahn nutzte wurde das Netz stetig ausgebaut. Neue Querverbindungen wurden geschaffen, die ein häufiges Umsteigen vermeiden und damit die Straßenbahnfahrt erleichterten sollten.
Im November 1943 wurde das gesamte Straßenbahnnetz umgestaltet. Da aller Treibstoff für die militärische Nutzung benötigt wurde, war der Busverkehr eingestellt worden. Damit dennoch alle Stadtteile eine direkte Verbindung zum Zentrum erhielten, war die Umstellung des Straßenbahnnetzes notwendig geworden. Handzettel sollten es den Breslauern erleichtern, sich im neuen Netz zurecht zu finden.
Helmut hatte im November 1943 seinen Schulabschluss schon lange in der Tasche, sodass er nicht mehr schauen musste „Welche Linie fährt zu meiner Schule?“.