Ernst schauen die Jungen in die Kamera – ein typisches Foto einer Schulklasse zu Beginn der 1920er Jahre. Auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich, erst bei genauem Hinsehen unterscheidet sich diese Schulklasse von einer gewöhnlichen Volksschulklasse. Sitzt doch zum Beispiel links am Bildrand ein Kind in einem Bett statt auf der Schulbank: Aufgenommen wurde das Foto im Klassenzimmer des Namslauer Krüppelheims. Die heute pejorative Verwendung des Begriffs „Krüppel“ mag irritieren, war seinerzeit jedoch eine wertneutrale Bezeichnung für körperlich beeinträchtigte Menschen und sollte nicht dazu verleiten, den Fortschritt, den die Einrichtung solcher Heime bedeutetet hatte, zu unterschätzen. Denn dass Kinder mit körperlicher Beeinträchtigung zur Schule gehen und eine Berufsausbildung absolvieren konnten, wenn auch getrennt von anderen Schülern, war zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit.
Bis zur Verabschiedung des Preußischen Krüppelfürsorgegesetzes im Jahr 1920 war die Pflege, Behandlung und Ausbildung der beeinträchtigten jungen Menschen ausschließlich in privater bzw. überwiegend kirchlicher Hand gelegen. In Schlesien waren seit der Jahrhundertwende mehrere solche Heime entstanden, so in Marklissa, Rothenburg, Waldenburg und Beuthen O/S. Das Namslauer Krüppelheim erhielt seine Weihe im Oktober 1913. Es lag in der Trägerschaft der Barmherzigen Brüder, die sich dem Dienst an den Kranken und Behinderten verschrieben hatten.
Das erwähnte Krüppelfürsorgegesetz schrieb erstmalig Fürsorgemaßnahmen für Menschen mit körperlichen Behinderungen als staatliche Verpflichtung fest und gewährte somit den Betroffenen einen Anspruch auf entsprechende Leistungen. So sah das Gesetz vor die „Bewahrung, Kur, und Pflege der hilfsbedürftigen Geisteskranken, Idioten, Epileptischen, Taubstummen, Blinden und Krüppel, soweit sie der Anstaltspflege bedürfen, in geeigneten Anstalten“ sicherzustellen. „Bei Krüppeln unter 18 Jahren umfasst die Fürsorge auch die Erwerbsbefähigung“. Um das Vorhaben umzusetzen, bedurfte es jedoch geeigneter Heime, wofür auch auf die vorhandenen privaten Einrichtungen zurückgegriffen wurde. Da der Staat jedoch kein Geld für die Ausstattung zur Verfügung stellte, waren die Krüppelheime auf andere Wohltäter angewiesen, sodass in der Folge vielerorts, so auch in Namslau, Krüppelfürsorgevereine gegründet wurden.
Dank deren Unterstützung gelang es neben dem medizinischen Personal auch zwei Lehrkräfte einzustellen, die für die im Fürsorgegesetz geforderte Schulbildung zuständig waren. Die religiöse Erziehung übernahm für die katholischen Kinder der Hauspfarrer, um die evangelischen Zöglinge kümmerten sich die Pastoren der evangelischen Kirche. Besonderes Ansehen genossen die Werkstätten, in denen nicht nur die Jugendlichen einen Handwerksberuf erlernen konnten, sondern deren Produkte auch regen Absatz fanden. Ausgebildet werden konnten die Jugendlichen in einer Tischlerei, einer Bürstenmacherei, einer Korbflechterei, einer Schmiede, einer Schuhmacherei, einer Schneiderei oder einer Gärtnerei. Neben dem Erlernen eines Berufes wurde auch die Ausbildung in Musik, Spiel und Sport gefördert. Es gab Musikunterricht und es wurden Theateraufführungen geprobt. Die Zöglinge sollten auf ein selbständiges Leben vorbereitet werden. Es war das erklärte Ziel vollwertige und gleichberechtigte Menschen zu bilden.