Emilie Zirpel hatte ein bewegtes Leben, so wie viele Schlesier in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als sie 1894 geboren wurde, regierte Kaiser Wilhelm II. Ihr Geburtsort Steindorf im Kreis Ohlau gehörte zur Provinz Schlesien und damit seit den Schlesischen Kriegen Mitte des 18. Jahrhunderts zum Königreich Preußen. Am Ende ihres Lebens hieß ihr Geburtsort Wójcice und war polnisch und sie selbst lebte viele hundert Kilometer weiter westlich in der Bundesrepublik Deutschland. Dazwischen hat sie zwei Weltkriege, mehrere Staatsformen und Grenzverschiebungen miterleben und mehrfach den Wohnort wechseln müssen.
Über das Alltagsleben und die Familie von Emilie ist wenig bekannt: Aus den erhaltenen Dokumenten geht nur hervor, dass sie vermutlich 1920 Felix Zirpel geheiratet und 1921 eine Tochter zur Welt gebracht hat. Die Tochter Hildegard war gelernte Kontoristin und in diesem Beruf vor und nach dem Zweiten Weltkrieg tätig, während Emilie wohl immer Hausfrau war. Ende 1940 kündigte die Tochter ihre Stellung bei der Molkerei in Brieg mit der Begründung, sich wegen der kranken Mutter um den Haushalt kümmern zu müssen. An welcher Krankheit Emilie litt, ist unbekannt. Da die Tochter nach zehn Monaten jedoch eine neue Stelle antrat, ist davon auszugehen, dass Emilie zu diesem Zeitpunkt weitgehend genesen war.
Wenn die erhaltenen Dokumente auch wenig über den Alltag erzählen, so spiegeln sie deutlich die Krisen, Kriege und Umbrüche der Zeit wider, die den Lebensweg von Emilie stark geprägt haben. Als junge Frau erlebte Emilie den Ersten Weltkrieg und in dessen Folge das Ende des Deutschen Kaiserreiches. Das Deutsche Reich hatte den Krieg verloren und saß 1919 nicht mit am Verhandlungstisch in Versailles, als die Alliierten die Grenzen in Europa neu zogen und Polen wieder auf der Landkarte setzten. Über die Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Deutschland oder Polen und damit auch des nahe Oppeln gelegenen Ortes Krzanowitz, in dem Emilie mit ihrem Mann lebte, sollte eine Volksabstimmung entscheiden. Bis zum Wahltag wurde das Abstimmungsgebiet von der interalliierten Plebiszit-Kommission verwaltet. Wollte Emilie in ihren Geburtsort oder nach Breslau reisen, benötigte sie nunmehr ein Visum und einen Reisepass, obwohl Krzanowitz ebenfalls zu Schlesien gehörte.
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges lebte Emilie, vermutlich bedingt durch die Arbeit ihres Mannes, mit ihrer Familie in Brieg. Die Oderstadt blieb lange vom Kriegsgeschehen verschont. Als sich jedoch nach dem Zusammenbruch der Ostfront die Lage an der Oder im Januar 1945 zuspitzte, wurden Emilie und ihre Tochter nach Bad Warmbrunn evakuiert – am 27. Januar erhielt sie von der NSDAP Kreisleitung den Aufenthaltsberechtigungsschein. Doch Warmbrunn war offenbar nur eine Zwischenstation, denn schon einen Monat später hielten sich Emilie und ihre Tochter im böhmischen Marienbad auf und wurden dort als Deutsche im Sudentenland registriert.
Wann sie dort aufbrachen und wie sie schließlich nach Bayern gelangten ist nicht überliefert, doch im Juni 1945 lebte Emilie bereits in Mitterteich. Eine vorläufige Registrierungskarte erhielt sie jedoch erst am 3. Oktober. Wie provisorisch diese war, zeigt sich, wenn man die Rückseite betrachtet: gedruckt waren die Formulare auf alte Landkarten.
Im April 1946 kam Emilie schließlich nach Winkel am Rhein und erhielt dort neben einer vorläufigen Registrierungskarte, dieses Mal auf weißem Papier, auch einen vorläufigen Ostflüchtlingsausweis. Die Odyssee hatte ein Ende: Emilie blieb mit der Familie im hessischen Rheingau.