„Passierschein, der als Wahlkarte gilt“ steht auf dem Ausweispapier, das am 1. März 1921 in Kandrzin auf den Namen der jungen Breslauer Bürobeamtin Charlotte Pelz ausgestellt wurde. Dieses Dokument berechtigte sie dazu, am 20. März ihr Stimmrecht in Oberschlesien auszuüben. Eine Einreise in das unter französischer, englischer und italienischer Besatzung stehende Abstimmungsgebiet war ohne dieses Dokument nicht möglich.
Nachdem die ursprüngliche Absicht der Alliierten, Oberschlesien in seiner Gänze an Polen anzugliedern, in Deutschland zu massiven Protesten geführt hatte, sah der Versailler Vertrag ein Plebiszit vor. Dieses sollte über die künftige Staatszugehörigkeit Oberschlesiens entscheiden. Mit Inkrafttreten des Friedensvertrages 1920 wurde die Region deshalb zunächst einer „Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission“ unterstellt, die bis zu dieser Entscheidung – abgesehen von Gesetzgebung und Steuerwesen – sämtliche Befugnisse der deutschen bzw. preußischen Behörden übernahm. Ihre Hauptaufgabe bestand in der ordnungsgemäßen Durchführung und Überwachung der Volksabstimmung.
Bei der Volksabstimmung durften nicht einfach die ihr Votum abgeben, die zum Zeitpunkt seiner Durchführung dort lebten, sondern alle diejenigen, die in Oberschlesien geboren waren oder vor dem 1. Januar 1904 ihren Wohnsitz dort begründet hatten. Durch diese Regelung durften neben den in Oberschlesien Ansässige auch gebürtige Oberschlesier abstimmen, die in anderen Teilen des Landes oder im Ausland wohnhaft waren. Zu diesem Zwecke mussten sie jedoch persönlich anreisen – eine Briefwahl war nicht möglich. Auch Charlotte Pelz war in Oberschlesien geboren und deshalb stimmberechtigt. Eingetragen war sie in der Stimmliste in Kandrzin, Kreis Cosel, ihrem Geburtsort. Der Passierschein war zugleich Wahlkarte, berechtigte aber erst maximal 12 Tage vor der Abstimmung zur Einreise und diente auch nur diesem Zweck. Die Reise von Breslau zum Wahlort Kandrzin war kein allzu großer Aufwand, doch lebten viele Oberschlesier im Ruhrgebiet oder auch im westlichen Ausland. Für diese gestaltete sich die Anreise wesentlich aufwendiger.
Um möglichst vielen der Stimmberechtigten ihre Teilnahme am Plebiszit zu ermöglichen – man versprach sich von ihnen in der Regel ein Votum zugunsten Deutschlands – bemühten sich zahlreiche Vereine um die Organisation der Reise. Zu ihnen gehörte neben dem Verband heimattreuer Oberschlesier der Deutsche Schutzbund für die Grenz- und Auslandsdeutschen, der sich 1919 primär aus dem Grund gegründete hatte. Er warb für die Unterstützung der Abstimmung zugunsten der deutschen Seite, kümmerte sich um den Transport nach Oberschlesien und dessen Finanzierung sowie um die Verpflegung unterwegs und vor Ort. Bereits im September 1920 gab der Deutsche Schutzbund eine 30 Seiten umfassenden „Anleitung für die Ausgabestellen der Fahrscheine zur Volksabstimmung in Oberschlesien“ heraus, die vor allem den Organisatoren vor Ort, aber auch den „Reisenden“ den Ablauf erläuterte.
Mehr als 170.000 Stimmberechtigte reisten Mitte März in rund 250 Sonderzügen nach Oberschlesien – unter ihnen auch Charlotte Pelz, wie die Stempel unten auf dem Dokument belegen. Diese hohe Wahlbeteiligung – sie lag bei insgesamt 98% – unterstreicht die Bedeutung, die der Entscheidung über die Staatszugehörigkeit Oberschlesiens beigemessen wurde.