Dieses Kamel – aus Ton geformt, mit Ölfarbe bemalt, hochbetagt und etwas einsam – ist einziger „Überlebender“ einer Weihnachtskrippe und eines jener Objekte, dessen Platz nicht nur jahrelang zu Weihnachten an der Seite der Heiligen Familie war, sondern auch Jahrzehnte auf dem heimischen Kaminsims, wo es stellvertretend für die vielen verlorenen Stücke seine Schöpferin an die Jugendzeit in Schlesien erinnerte.
In erster Linie erinnert das Kamel natürlich an die Krippe selbst, die Ruth Hackenberg, in Hindenburg geboren, vor rund 95 Jahren modelliert hat. Das 13 cm große Kamel ist Teil einer einstmalig aus 14 Figuren bestehenden Weihnachtskrippe, die in den Jahren 1924 bis 1926 aus gelblich-weißem Ton geformt worden ist. „Den Ton für die Figuren“, so erinnerte sich Ruth Hackenberg, „brachte mir immer ein Ofensetzmeister aus Bunzlau mit.“ Die kleinen Kunstwerke hatte sie aus Ihrer Phantasie heraus selbst geformt.
Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, die aus der Oberschlesischen Volksstimme stammt und erhalten geblieben ist, zeigt das Kamel, vermutlich müde von der langen Reise, aber mit durchaus stolzem Gesichtsausdruck neben der Heiligen Familie liegend, wie es das Neugeborene in der Krippe bewundert. Außer dem Kamel und der Heiligen Familien gab es natürlich noch einen Ochsen, die drei heiligen Könige und ein paar Hirten, aber auch einen großen Engel mit einer Harfe und zwei kleinere Sternen-Engel. Und ganz heimlich hat sich noch ein Elefant auf das Bild geschlichen, der gar nicht zur Krippe gehörte. Zu den Figuren, die hier auf Heu gebettet sind, gab es auch ein Krippenhaus aus Pappe, das mit Tannenspitzen und Moos bedeckt war. Da die Tonfiguren jedoch nicht gebrannt waren, wurden sie im Laufe der Jahre mehr oder weniger stark beschädigt und gingen nach und nach sogar ganz kaputt.
Zu den Jugenderinnerungen von Ruth Hackenberg zählen aber nicht nur festliche Stunden im Angesicht der Weihnachtskrippe. Zu den negativen Erfahrungen etwa zählt das Jahr 1921, als sie vom einen zum anderen Tag nicht mehr in ihre Schule konnte, da die von ihrer Familie gehassten, polnischen Aufständischen die Schule besetzt hatten. Der Ort Schoppenitz (Szopienice) heute ein Stadtteil von Kattowitz, in dem die Schule stand, wurde im Sommer 1921 zum Hauptsitz der Zivil- und Militärverwaltung von Wojciech Korfanty im 3. Schlesischen Aufstand. Noch rund 40 Jahre später, als Ruth Hackenberg erneut vor dem inzwischen polnischen Gymnasium stand und Fotos machte, standen ihr lebhaft vor Augen, was für „ein unbeschreiblicher Schlag [dies] für die Lehrerschaft und Schüler“ war.
Zu den traumatischen Erinnerungen zählen – auch wenn es nicht mehr ihre Jugendjahre betraf – außerdem die Erlebnisse aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, als die Familie 1945 ihr Haus mit allem Mobiliar zurücklassen musste. Eines der wenigen Dinge, die von dort mitgenommen werden konnten, war das, inzwischen mit dunkler Ölfarbe bemalte Kamel, das bis zur Übergabe in die Sammlung von HAUS SCHLESIEN das Kaminsims seiner einstigen Schöpferin in Köln schmückte.